Montag, 25. Februar 2013

Boston oder "Warum ist das nicht John F. Kennedy?"

Unser Trip nach Boston kürzlich war so schön, dass ich mich erstaunlicherweise zu einem zeitnahen Eintrag motivieren konnte, um diese Erfahrung mit euch zu teilen. Und ja, auch um ein wenig zu prahlen. Aber dazu später mehr.

Kleine Vorgeschichte zum Thema Boston:

Ich war letztes Jahr im August schonmal für ein Wochenende in Boston und einige von euch wissen auch, dass dies den Namen Horror-Trip redlich verdient hatte. Ich fuhr mit meiner ehemaligen Mitbewohnerin (ehemalig? ja, ich bin mal wieder umgezogen) mit dem Nachtbus von Montréal nach Boston. Leider hatte Yeelena soeben die Analogfotografie für sich entdeckt und war mit vollem Eifer dabei, brauchte allerdings pro Foto ca. 15 Minuten. Ihr Ansatz ähnelte dabei jedoch eher dem der Digitalfotografie, frei nach dem Motto "Alles was ich sehe, MUSS auch fotografiert werden." Und da Boston einen sehr schönen Mix an Architektur bietet und Yeelena noch dazu Urbanismus studiert, also zum ästhetischen auch noch ein professionelles Interesse hinzukam, haben wir innerhalb von zwei Tagen ungefähr drei Häuserblöcke und eine Brücke gesehen, die wiederum detailgetreu, Meter für Meter auf acht Rollen Film festgehalten wurden. Zudem kam noch eine äußerst unangenehme Couch Surfing Erfahrung hinzu (um es mal zusammenzufassen: der Typ wohnte eine Stunde außerhalb von Boston, seine Wohnung war abends quasi unerreichbar, er wollte unbedingt jemanden abschleppen und erlaubte daher nur Mädchen in seiner Wohnung, die Bettwäsche wurde noch nie gewechselt, war blutbefleckt und voller Krümel und Hundehaare, wir fanden Spritzen im Badezimmer, der Hund kackte im Laufe von 2 Tagen viermal auf den weißen (!) Teppich, weil niemand mit ihm rausging und sein Nachbar versuchte uns zur Einnahme von MDMA und Valium zu bewegen). Wie auch immer. Keine schöne Erfahrung. Fragt mich nicht, warum ich mich nicht durchgesetzt und einen Großteil dieser Katastrophe verhindert habe, obwohl es mir von Anfang alles nicht so ganz koscher vorkam. Ich war jedenfalls heilfroh als es vorbei war.

Dieses mal sollte also alles besser werden. Zuallererst fuhr ich diesmal mit meinem Freund, was die Reise schon allein dadurch einfacher gestaltete, dass wir nie in eine durch Höflichkeit verursachte  diplomatische Handlungsstarre gerieten. (Diese unsägliche Situation, von Sozialpsychologen wahrscheinlich als Diffusion der Verantwortung betitelt, wenn man mit Freunden reist und aus Höflichkeit oder aus Scheu vor Verantwortung niemals jemand eine Entscheidung trifft, weil es allen egal ist und niemand Schwierigkeiten bereiten möchte. Letztendlich entscheidet die Person, die die Handlungsstarre am wenigsten aushalten kann, dadurch aber paradoxerweise von den anderen für die Konsequenzen einer jeden Entscheidung verantwortlich gemacht wird.) Nach über einem Jahr Beziehung gibt es bei uns keine diplomatische Handlungsstarre mehr. Jeder sagt, was er will und wenn die Wünsche voneinander abweichen, diskutiert man. Sollte dies nicht zu einer Lösung führen, gewinnt die Person, die am manipulativsten ist (ich) und/oder am meisten rumranzt (auch ich).

Im Vorfeld wurde es leider etwas stressig, da ich die Arbeit von 5 Arbeitstagen in nur 3 Tagen erledigen mussten und ich am Dienstag Abend vor der Fahrt einen (mutmaßlich durch 12 Stunden auf EEG Wellen starren ausgelösten) Migräneanfall bekam, den ich wie mir zu dem Zeitpunkt vollkommen logisch erschien, heute für mich jedoch schwer nachvollziehbar, mit Bier zu kurieren gedachte. Nach einer halben Dose (Achtung nobel) Bier fiel ich direkt in den Tiefschlaf ohne meine Sachen gepackt zu haben.

Am Mittwoch ging es dann mit ein bisschen Verspätung los. Wir fuhren mit dem Auto (car sharing - yeah!), bzw. ich fuhr und Arthur (ehemals Josh, er hat seinen Rufnamen geändert) navigierte. Das kann hier, vor allem wenn man noch auf der Insel (Montréal) ist, schonmal sehr knifflig werden, da Abfahrten nicht nur rechts, sondern auch links (!) und sogar in der Mitte (!!) sein können. Die Autofahrt war schön entspannt, wir hielten wie immer in jedem Bundesstaat an (eine Vorliebe von Arthur, die meinen Vater bei unserem Trip durch Amerika bereits zur Weißglut brachte), also diesmal in Vermont (Lyndonville) und New Hampshire (Concord). Wir erreichten Boston gegen 19 Uhr, also genau zur Rush Hour und schlichen schneckenlangsam in die Innenstadt. Das Tempo nahm erst wieder zu als es auf dem Expressway kompliziert wurde, so dass ich mit einem abenteuerlichen Spurwechselmanöver für einen ordentlichen Adrenalinschub sorgen musste.

Nun folgt eine sehr detaillierte Beschreibung unserer Parksituation in Boston, die ich als das heimliche Juwel dieses Posts vorgesehen habe. Meine Anspielung auf eventuelle Prahlerei, die ich zu Beginn des Eintrags eingestreut habe, bezieht sich auf folgendes Erlebnis. Höret, staunet und lernet.
Unser Hostel lag direkt in der Innenstadt und - leider - auch direkt neben dem Basketball Stadium, in dem natürlich am Abend unserer Ankunft gerade ein wichtiges Spiel stattfand. Wir erreichten das Hostel etwa eine halbe Stunde vor Spielbeginn und die Verkehrssituation war irrsinnig. Arthur sollte im Hostel fragen, wo man am besten parkt, aber schon während ich noch im Auto wartete, kamen mehrere Parkguides, wiesen mich darauf hin, dass ich dort nicht stehen durfte ('You can't park here, hun.') und wollten mich auf ihre übertrieben teuren Parkplätze locken. Im Hostel wussten sie auch keinen Rat, also machten wir uns auf eigene Faust auf die Suche nach einer Parkmöglichkeit. Durch einen unglücklichen Zufall (oder besser gesagt meine Unfähigkeit in Stresssituation hinter dem Steuer die Ruhe zu bewahren) gerieten wir direkt in das Parkhaus des Basketballstadions und konnten, einmal in der Einfahrt, nicht mehr umkehren. Ich fragte die Person an der Schranke, die mir das Parkticket gab, ob man hier auch mehrere Tage stehen durfte, er sagte ja und im Wegfahren erhaschten wir soeben noch einen Blick auf das Schild, welches "Event parking 34$" anpries. Beladen mit unserem Gepäck suchten wir das Parkhauspersonal auf, um uns über den Preis zu informieren, sollten wir hier für 4 Tage stehen bleiben. Wir erklärten, dass wir bis Samstag bleiben würden und ich fragte mehrmals nach einem deal. Zunächst begegnete man uns mit Unverständnis und es wurde relativ schnell klar, dass wir mindestens 40$ für die erste Nacht und danach 30$ pro weiteren Tag zahlen müssten. Angesichts unserer offensichtlichen Verzweiflung reagierten die beiden jungen Menschen jedoch sehr freundlich und sagten "Wenn ihr länger bleibt, wollt ihr nicht hier parken. Wir lassen euch raus, ihr müsst nichts bezahlen." Glücklich, der Kostenfalle entkommen zu sein, brachen wir wieder auf in die Nacht. Zum Glück hatte nun auch das Spiel angefangen und die Verkehrslage hatte sich dadurch beruhigt. Doch nachdem wir einige Parkplätze und Parkhäuser abgeklappert hatten, wurde klar, dass wir mindestens mit 25$/Tag zu rechnen hatten. Arthur wollte das Auto über Nacht abstellen und morgens nach einer Alternative suchen, doch dafür hätten wir in den meisten Parkhäusern vor 4 Uhr morgens rausfahren müssen (unrealistisch). Durch Geiz motiviert schlug ich vor an der U-Bahn Linie entlang, die zu unserem Hostel führt, aus der Innenstadt herauszufahren und dort nach günstigeren Parkmöglichkeiten zu suchen. Arthur navigierte mich entlang der orangenen Linie aus der Innenstadt, bis wir an der Northeastern University vorbei kamen (in Boston gibt es gefühlte zehntausend Universitäten). Wir entschieden aus dem Bauch heraus dort unser Glück zu versuchen und fanden schnell ein zur Universität gehörendes Parkhaus. Arthur stieg aus und fragte den Nachtwächter, ob wir dort parken dürften, wir würden bis Samstag bleiben. Der Nachtwächter sagte, nicht hier, aber auf einem Parkplatz in der Nähe und kramte einen Zettel hervor, auf der eine Karte abgedruckt war, wie man zum Parkplatz kommt. Arthur zeigte mir die Karte und in der linken unteren Ecke stand in fetten Buchstaben 'Admission Visitor Parking Permit (Please leave this on your dashboard!)'. Als wir auf den Parkplatz auffuhren sahen wir das Schild 'student parking only' und schalteten beide blitzschnell. Wir reichten dem Nachtwächter also den Zettel mit den Worten "Das haben wir bekommen, weil wir bis Samstag hier sind, können wir damit hier parken?" Der Nachtwächter hatte diesen Fetzen offensichtlich noch nie gesehen und las ihn durch. Er fragte uns, was wir hier machen würden und ich log, wir seien zukünftige Studenten und seien da, um uns die Uni anzuschauen. Er sagte ok, ich kurbelte das Fenster runter und Arthur zischte mir nur zu 'straight face'. Wir hielten die Fassade aufrecht bis wir außer Sichtweise des Wächters auf einem Parkplatz anhielten und in Jubel ausbrachen. Parkproblem gelöst, noch dazu kostenlos. Was will man mehr? Dieser Triumph begleitete uns das gesamte Wochenende, indem wir immer sobald wir ein Parkhaus sahen, schauten, wie teuer es ist, um uns dann darüber zu freuen, dass wir nichts bezahlen.

Wir fuhren zurück zum Hostel, checkten in unseren 12 bed mixed dorm ein und kauften vorrausschauend ein Paar Ohrstöpsel für jeden. Danach sahen wir uns im Dunkeln noch ein wenig die Stadt an, aßen eine Suppe in einem Restaurant in China town, welches unter anderem auch Gehirn und Schweinefüße anzubieten hatte. Boston kam uns direkt sehr schön vor, aber auch ein wenig unbelebt nach 23 Uhr (zugegeben, es war Mittwoch). Letzendlich fanden wir aber doch noch einen Pub, in dem wir gemütlich ein Bier tranken bis Arthur und ich aus Ungeschicklichkeit gleichzeitig beide unser Bier verschütteten und uns aus Scham davonschlichen.

Vom ersten Tag an begleitete uns außerdem ein running gag, der auf ein Erlebnis zurückgeht, dass wir hatten als wir gemeinsam in Washington waren. Dort nahmen wir an einer Führung durch das Capitol Building teil und einer der anderen Teilnehmer, ein älterer Herr, fiel uns wiederholt durch seine Fragen ausschließlich bezüglich John F Kennedys auf. Zu Beginn war es noch sehr direkt. Sagte der Touristenführer beispielsweise etwas wie ".. alle Präsidenten der Vereinigten Staaten haben hier blablabla..." würde dieser Herr spezifisch nachfragen "Auch John F Kennedy?" und der Führer würde unermüdlich antworten "Ja, auch John F Kennedy." Im Laufe der Führung wurde es dann etwas ausgefallener. Als es beispielsweise um die National Statuary Hall ging, in der von jedem Bundesstaat die Statuen zweier prominenter Amerikaner ausgestellt sind, fragte der Herr "Welche Statuen hat Massachusetts denn ausgestellt?". Wenig verwunderlich irritierte ihn die Antwort unseres Betreuers (Samuel Adams und John Winthrop) sehr und er fragte empört nach: "Warum nicht John F Kennedy?". Diese Erinnerung inspirierte uns dazu unsere Reise nach Boston, als dem Geburtsort John F Kennedys, dem 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten zu widmen und unermüdlich unsere Empörung auszudrücken, sollte eine Statue nicht John F Kennedy zeigen oder eine Straße nicht nach ihm benannt sein (es nahm ein wenig Malchovich Malcovich Ausnahme an, für diejenigen von euch, die Being John Malchovich kennen) sowie Fotos von allem John F Kennedy verbundenen zu machen.

John F. Kennedy Straße in Cambridge.
Der Donnerstag war dann komplett dem sight seeing gewidmet und wir waren wirklich sehr beeindruckt. Boston ist so schön. So schön. Boston ist eine der wenigen Städte in Nordamerika, die nicht nach dem Schachbrettmuster gebaut sind und wenn man in den Himmel blickt sieht man einen beeindruckenden Architektur-Mix mit Gebäuden verschiedener Epochen. Arthurs Favorit ist die Boston City Hall, deren Stil er (und wahrcheinlich auch andere Leute) als Brutalismus bezeichnet. Ich habe das Gefühl, dass die Ruhr-Universität Bochum auch dazu gezählt werden kann, ihrerseits jedoch unbeabsichtigt.

Die Boston City Hall. Dieses Foto ist von wikipedia. Wir haben uns auf John F. Kennedy Fotos beschränkt, da ich noch von Yeelenas Fotomarathon traumatisiert war.
Am Nachmittag hatten wir eine Reservierung für einen Tisch im Union Oyster House, dem ältesten (!) Restaurant der Vereinigten Staaten. Da es natürlich eine Touristenattraktion ist, bekamen wir nur einen Tisch um 5 Uhr, waren dann aber auch froh, da es uns beim spazieren gehen am Hafen recht kalt geworden war. Der absolute Hammer war für uns natürlich, dass J F Kennedy persönlich hier zu dinieren pflegte und ihm daher auch eine spezielle Kennedy booth gewidmet ist. Wenig überragend war das Personal nicht sehr beeindruckt von unserer Foto-Session in der booth.


Arthur in der Kennedy Booth. Seine Fotos von mir sind leider noch wackeliger geworden. Wahrscheinlich hat ihn der triefende Hass des Personals etwas verunsichert.

In der Booth nebenan hing übrigens ein Schild, dass der Zahnstocher im Union Oyster House erfunden wurde. Ich hingegen vertrete die Theorie, dass der Zahnstocher (wenn auch in einer etwas grobschlächtigeren Variante) in der Steinzeit erfunden wurde. Da das Union Oyster House natürlich keineswegs in unserem Budget lag, aßen wir beide nur einen (superleckeren) clam chowder, eine Spezialität Bostons, und tranken ein Bier. Sobald die zunächst überaus freundliche Kellnerin dies herausgefunden hatte, konnte sie ihren abgrundtiefen Hass nicht mehr verbergen und versuchte uns so schnell wie möglich raus zu bekommen, was bei mir auf Unverständnis traf, da das Restaurant halbleer war und wir niemanden einen Platz weg nahmen, der mehr dort ausgegeben hätte. Zudem sind 35$ auch nicht schlecht für ein Süppchen und nen Glas Bier. Wie auch immer, gelohnt hat es sich trotzdem, da die urige Atmosphäre echt schön war.

Abends sahen wir uns ein Valtentinstags Spezial im ImprovBoston in Cambridge an. Das war leider nicht improvisiert, sondern eine geplante show mit vielen verschiedenen kleinen Acts, aber trotzdem der Hammer. Das highlight war für uns beide ein älterer dicker Herr mit Brille, der mit gespielter, aber sehr überzeugender Ernsthaftigkeit Gedichte von (Achtung!) Charly Sheen rezitierte, welche dieser veröffentlicht hatte bevor er berühmt wurde. Ein Traum.

Später am Abend musste ich leider in Tränen ausbrechen, da ich mich nicht entscheiden konnte welche Art von Nachtisch wir zum Valentinstag essen sollten. Die berühmte Bäckerei Mike's war so überfüllt, dass wir direkt aufgaben. Letztendlich kauften wir ein Stück Kuchen in einem weniger frequentierten Laden, das dann leider auch sehr dröge geschmeckt hat.

Freitag und Samstag fand dann die "German Conference at Harvard" statt, die uns den Anstoß gegeben hatte nach Boston zu fahren. Arthur war als einer der wenigen Nicht-Deutschen Teilnehmer trotzdem außerordentlich glücklich über das Programm. Unter dem allgemeinen Titel "The End of the West as We Know It?" wurden zu Sozial-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik Reden gehalten und Diskussionen geführt. Das Programm war wirklich sehr sorgfältig zusammengestellt und die Redner hätten renommierter nicht sein können (Ursula von der Leyen, Walter Steinmeier, Wesley Clark...). Ich fand es sehr spannend diese doch sehr berühmten deutschen Politiker live auf der Bühne zu sehen und englisch sprechen zu hören. Leider haben sowohl Cem Özdemir als auch Joschka Fischer in letzter Minute abgesagt, was den Organisatoren ziemlich ihr Programm verranzt hat. Sie haben allerdings in Michael Ignatieff einen guten und (witzigerweise) kanadischen Ersatz gefunden, der dann eine der kontroverseren Reden gehalten hat.

Nach Ende der Konferenz am Samstag schauten wir uns dann noch Harvard an und fühlten uns wie zu erwarten ein wenig minderwertig mit unserer Université de Montréal. Auch waren wir sehr erstaunt über die vielen jungen Männer in Anzügen, die über den Campus schlenderten. Würde an unserer Uni jemand ohne triftigen Grund immer einen Anzug tragen, läge die Vermutung einer psychischen Störung oder zumindest eines kleinen Knackses nahe, wohingegen es dort wie selbstverständlich zur Tagesordnung gehört. Ivy league eben.

Am späten Nachmittag vor unserer Heimreise statteten wir dann selbstverständlich noch dem Haus, in dem John F. Kennedy geboren wurde einen Besuch ab. Leider war es für die Saison geschlossen, aber wir haben natürlich trotzdem ein Foto davon gemacht.

Arthur vor dem Geburtshaus von John F. Kennedy. Wir sind uns sicher, dass der ältere Herr aus unserer Erzählung auch schonmal hier war.

Als wir uns auf den Weg machten um unser Auto abzuholen, malten wir uns optimistisch wie wir nunmal sind alle möglichen worst case Szenarien aus, die sich alle darum drehten, dass unsere Lüge aufgeflogen sei und das Auto abgeschleppt wurde, oder wir zumindest eine Strafe bezahlen müssen. Außerdem überlegten wir krampfhaft, was wir dem Wächter erzählen würden, wenn er uns nach den Details unseres Aufenthaltes fragt. Wie Nachtwächter es ja nunmal zu tun pflegen. All dieser Stress nur, um unser Auto heil und ohne Strafzettel vorzufinden, genauso wie eine offene Schranke und einen fehlenden Nachtwächter. Wieder Glück gehabt.


Dienstag, 6. November 2012

Back to live – Winter in Kanada


Mein letzter Blogeintrag ist nun schon fast ein Jahr her und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hat auch der letzte unter euch den Glauben an mich verloren, bzw, hoffentlich nur den Glauben an diesen Blog.

Ha! Und gerade als ihr es am wenigsten erwartet komme ich auf einmal wieder aus der Ecke hervor. Überraschung!

Ich hatte es aufgegeben. Ich fühlte mich schlecht deswegen, immer mehr Anekdoten stapelten sich auf, die erzählt werden wollten – oder von denen ich annehme, dass sie erzählt werden wollen. Mit längerem Abstand vom letzten Blogeintrag fühlte ich die Erwartungshaltung meiner Leserschaft steigen („Meine Güte, jetzt lässt sie sich aber Zeit. Da erwarte ich jetzt aber auch nen Blogeintrag der mich vom Hocker haut, dooh“). Doch letztendlich dachte ich mir: es ist unwahrscheinlich, dass ihr nach einem Jahr denkt: „Was, das ist alles? Jetzt bin ich aber enttäuscht. Ich hätte bevorzugt, dass sie lieber gar nichts mehr schreibt.“ Bref (frz.: wie auch immer; kurz gesagt:) Hintern hoch und los geht’s!

Da ich es chronologisch ja nicht auf die Kette bekommen habe, entscheide ich mich hiermit für eine neue Erzählstruktur: was mir gerade zufällig in den Kopp kommt. Mal sehen was draus wird.

Also, ich habe meinen ersten Winter in Kanada überlebt und entgegen aller Erwartungen bin ich nicht direkt erfroren. Doch ich sage euch, ich war verdammt nah dran.

Ab Anfang Dezember war die Stadt komplett eingeschneit. Im Gegensatz zu Deutschland hält hier jedoch nicht ab einer Schneedecke von 10cm das Leben komplett an, was selbstverständlich ist, wenn man bedenkt, dass der Schnee bis April liegen bleibt. Ein Aussetzten des Alltagslebens für mehrere Monate verkraftet das Land wirtschaftlich nicht, nehme ich an. Autos, Busse und Züge fahren, Flugzeuge heben ab. Als ich mal das Konzept „schneefrei“ erwähnte, lachten meine kanadischen Kollegen mich aus und dachten, ich habe mir diesen lächerlichen Begriff ausgedacht. Straßen und Bürgersteige (!) werden mehrmals täglich geräumt. Aber wohin mit dem Schnee? Es schmilzt ja nichts weg, aber ständig kommt neues nach, man kann das Zeug also nicht einfach an den Straßenrand schieben (außer man möchte eine meterhohe Mauer zwischen Straße und Bürgersteig errichten). Die Lösung: der Schnee wird mit LKWs aus der Stadt gebracht und dort einfach auf leeren Flächen abgeladen. So kommt es, dass wenn man im Mai bei sommerlichen Temperaturen, wenn aller Schnee bereits geschmolzen ist, aus der Stadt herausfährt, draußen noch Schneeberge stehen, die  ganz langsam herunterschmilzen.
Moment mal, leere Flächen? Ja, meine Lieben, wir sind in Kanada. Und wenn es hier ein Problem nicht gibt, ist es Platzmangel. Gut daran zu erkennen, dass es mitten in der Innenstadt mehrere riesige unbebaute Schotterplätze gibt, auf denen absolut nichts ist. Nichts! Nichtmal Parkplätze!
Die Sache mit dem Schnee ist: wenn Ende November/Anfang Dezember die ersten Flocken fallen und die Stadt zuschneit, ist es magisch. Alles ist puderzuckerweiß wie in einem Wintermärchen. Innerhalb weniger Tage wird es matschig-grau und zur Gewohnheit. Gegen Februar will man nur noch, dass es aufhört – im Wissen, dass es noch mindestens zwei Monate dauern wird. Frühling bedeutet: Rausgehen können ohne sich mehrere Minuten in Kleidung einzuwickeln. Die Metrostation betreten ohne sich panisch die soeben liebevoll angelegten Schichten vom Leib zu reißen, weil in der Metro ca. +40 Grad herrschen. Nicht mit jedem mal Haus betreten eine Überschwemmung im Flur verursachen, weil der Schnee, den man nicht abgetreten bekam von den Stiefeln schmilzt. Nicht immer ein zweites Paar Schuhe dabeihaben, damit man nicht drinnen in Astronautenähnlichen Riesenstiefeln rumstapfen muss (ohne die einem draußen innerhalb kürzester Zeit die Zehen abfrieren).

Eins meiner krassesten Kälteerlebnisse war der europäische Weihnachtsmarkt, obwohl es wohl „nur“ so -17° gewesen sind. Den ganzen Dezember über schwelgte ich in nostalgischen Erinnerungen an den deutschen Weihnachtsmarkt. Ich fragte mich: warum ist das denn gerade hier so überhaupt nicht populär? Die winterliche Kälte schreit doch geradezu nach Glühwein und Bratwurst! Ich sollte es herausfinden. Ich machte also im Internet einen europäischen Weihnachtsmarkt ausfindig, der in der Altstadt stattfinden sollte. Voller Vorfreude auf Fress- und Trinkbuden machte ich mich auf den Weg. Als ich ankam war ich erst einmal enttäuscht: auf einem Platz größenmäßig in etwa vergleichbar mit der Schulaula einer kleinen Grundschule standen lediglich ein paar Hütten mit verschiedenen Länderflaggen. Über die Hälfte davon Québec-Flaggen. Versteht mich nicht falsch, ich liebe Québec, aber unter europäisch hatte ich mir doch etwas anderes vorgestellt (zum Beispiel Länder, die sich tatsächlich in Europa befinden, um das Konzept hier mal zu präzisieren). Es gab einen „deutschen“ Stand an dem sie (vorwiegend schweizerische) Süßigkeiten verkauften, einen Schweizer Wurststand und mehrere Elsass-Stände. Ich dachte mir: so, ich bin hier nicht vergeblich angetanzt, jetzt wird geschlemmt. Und wenn es keine Bratwurst gibt, nehme ich eben nen Elsässer Flammkuchen. Man muss arbeiten mit dem, was da ist, dachte ich. Böser Fehler. Ich hätte es wissen müssen als ich sah, dass alle anderen sich ihre Flammkuchen einpacken ließen. Aber ich dachte mir: „Nix da, auf die Faust, wie es sich gehört.“ Dies wurde dann zu der Situation meines Lebens, bei der ich dem Verlust von Gliedmaßen durch erfrieren am nächsten war. Um den Flammkuchen zu essen, musste ich meine grobschlächtigen Handschuhe ausziehen. Der Kälte ausgesetzt, froren meine Hände augenblicklich ein und jedes mal, wenn vom Flammkuchen heißes Fett auf meine Hände tropfte, schmerzte die gefrorene Haut an dieser Stelle noch mehr. Ich schlang das Ding so schnell wie es mir mit meinem eingefrorenen Kiefer möglich war herunter. (Den Snack aufgeben um dem Erfrierungstod zu entkommen? Nicht mit mir!). Danach hetzte ich zur Metro und zog während der 40 minütigen Fahrt nicht ein einziges Kleidungsstück aus,  so dass ich mich in einer Art körpereigenen Mikrowelle befand, bis ich meine Gliedmaßen wieder spüren konnte.

Die kälteste Temperatur, der ich länger als einen Sprint lang zur nächsten Metrostation ausgesetzt war, waren ca. -32° beim Iglofest. Das Iglofest ist ein bisschen wie das Piknic Elektronic (siehe einer der vorherigen Einträge), aber im Winter. Das heißt es wird ein kleines Festivalgelände aus Schneeblöcken erbaut, eine Bühne installiert und die ganze Nacht über elektronische Musik aufgelegt. Die Leute tanzen bei -30° draußen. Das Iglofest ist sicherlich eins der wenigen elektronischen Musikfestivals in denen 90% des Publikums Schneeanzüge tragen. Ein Bild für die Götter. Ich hätte es zu gern fotografiert, hatte auch meinen Fotoapparat dabei, aber es war echt zu kalt. Ich konnte mich trotz drei Schichten Hose und Socken + Stiefel und Daunenwintermantel nicht bewegen, weil ich komplett eingefroren war. Es wurde so schlimm, dass ich die Wahnvorstellung entwickelte, mein Blut konzentriere sich auf die lebenswichtigen Organe und könne deswegen nicht mehr meine Verdauungsorgane versorgen. Ich trieb es so weit, dass ich letztendlich den Wunsch verspürte mich zu übergeben (weil ja kein Blut mehr in meinem Magen war und ich deshalb alles loswerden musste, „was keine Miete zahlt“, um mal meinen ehemaligen Volleyballtrainer Tom zu zitieren). Arthur war so lieb das Iglofest mit mir nach wenigen Minuten wieder zu verlassen, obwohl wir 15$ für die Karten bezahlt hatten. Nächstes Jahr werde ich es nochmal wagen: Schneeanzug ich komme!

Ich möchte damit nicht sagen, dass ich den Winter hier hasse, aber er gehört sicher zu den Umständen, an die mir die Anpassung schwer fiel. Und fällt. Der nächste Winter steht vor der Tür. Und jetzt gehöre ich zu der Gruppe von Leuten, die den Neuankömmligen durch ihre Anekdoten (s.o.) Angst einjagen. Und so schließt sich der Kreis.

So, das war er. Mein erster Blogeintrag nach fast einem Jahr. Irgendwo muss man mal anfangen. Und ich dachte mir, der kanadische Winter ist etwas, dass für euch interessant sein könnte. Und wenn ihr es bis hier hin geschafft habt, war es ja vielleicht sogar interessant. Oder ihr seid einfach nur treue Freunde. Oder ihr habt ein Problem damit, etwas zu beenden, auch wenn ihr es langweilig findet. Dann solltet ihr daran arbeiten. Vielleicht gibt es ja bald ein paar neue Blogeinträge, an denen ihr euch trainieren könnt. Vielleicht auch nicht (Neue Strategie: Erwartungen immer niedrig halten).


Sonntag, 18. Dezember 2011

Roadtrip I - Burlington

So, nach einer langen Zeit Funkstille, in der ich mich ordentlich in die neue WG eingelebt habe, beginne ich nun mit dem Nachholen von versprochenen Anekdoten.

Als erstes steht ein Trip nach Burlington an, den wir Ende September unternommen haben. Meine erste Reise in die USA also, in die größte Stadt des Bundesstaates Vermont, die nah an der Grenze zu Québec liegt. Allerdings heißt "größte Stadt in Vermont" nicht, dass es sich um eine Großstadt handeln muss. Im Gegenteil, Burlington ist klein und unheimlich schnuckelig. Allerdings habe ich den richtigen Amerika-Flair vermisst. Dafür muss ich dann wohl doch mal ein bisschen weiter kommen. Das erklärte Ziel lautete in jedem Fall shopping, da Kleidung und Schuhe in Amerika bekanntermaßen sehr viel preiswerter sind als hier oder gar in Deutschland. Da das shopping den größten Teil des Samstages in Anspruch nahm, habe ich für den ersten Tag auch nur drei Fotos.

Ich bestelle mein Frühstück in einem Bagel-Shop
shoppen bei macy's

Hafen von Burlington bei Nacht
Da wir nicht damit gerechnet hatten, dass an einem Wochenende in Burlington und Umgebung jedes Motel ausgebucht sein würde, mussten wir kreativ werden und haben letzendlich auf einem abgelegenen Parkplatz im Mietwagen übernachtet. Es hätte deutlich schlimmer, aber wohl auch gemütlicher sein können. Aber wir sind jung und wann sollte man eine solche Erfahrung machen, wenn nicht jetzt. Ich hatte ein wenig Angst entdeckt zu werden, da ich mir nicht sicher bin, ob man das in den USA darf (wer weiß schon so genau, was man dort darf und was nicht), aber wir blieben glücklicherweise unerkannt. Oder ein vermeintlicher Finder hat sich nicht weiter an uns gestört und uns schlafen lassen, auch das ist möglich.

Schlafen im Auto. Definierte Desorganisation oder "man ist ja nur einmal jung".
Unser Frühstücksrestaurant

Blick von der Terasse des Restaurants auf den Hafen

Haupteinkaufsstraße von Burlington. Süß, ne?

Country-Band. Wir haben ihre CD gekauft und sahen uns daher berechtigt dieses Foto zu schießen.  
Nachdem wir uns Sonntag morgens noch ein wenig durch die Stadt geschlendert waren, machten wir uns wieder auf dem Weg, um das Umland zu entdecken.


Unterwegs stießen wir dann doch noch auf etwas ausgesprochen Amerikanisches: ein Waffenladen. Also, nichts wie rein, auch wenn ich mich dort drinnen ziemlich stark gegruselt habe.


Vermont gehört zu den Bundesstaaten mit den lockersten Waffengesetzen in Amerika...

Dann gab es da noch die Ben&Jerrys factory, die man besichtigen konnte. Ihr könnt euch vorstellen, dass ich mir sowas nicht entgehen lassen kann. Es war auch echt interessant, die Unternehmensgeschichte, die dort unter anderem vorgestellt wird, ist ganz schön verrückt.


Ich tue, was ich am besten kann: schlemmen.

Danach haben wir noch eine Apfelfarm besichtigt. Das war richtig schön gemacht, man konnte alle möglichen Produkte, die sie dort herstellen auf kleinen Minicräckern probieren. Und es gab heißen Apfelcider. Superlecker!

Zuletzt noch ein Foto dem man den Aufwand, mit dem es aufgenommen wurde, nicht im Geringsten anmerkt. Wir sind dafür mit einem Stativ einen kleinen Fels hochgeklettert. Ein Bild von der Landschaft mit unserem Leihwagen davor - unter Einsatz unseres Lebens.

Das war es dann auch schon fast von unserem USA Wochenendtrip. Bis auf einen etwas unangenehmen Zwischenfall ganz zum Schluss, der den kanadischen Zoll und einen Kofferraum voll frisch gekaufter Kleidung, selbstverständlich inklusive Preisschild und Bon, betraf. Das ganze lässt sich mit Dummheit und unserer fehlenden Erfahrung mit Grenzkontrollen erklären und wird von mir unter "Erfahrung" verbucht. Manchmal sind Erfahrungen eben teuer. Vor allem im Ausland, wenn man noch nicht mit den Regeln vertraut ist.

Das war es jetzt erstmal von mir, ich versuche in der nächsten Zeit noch weitere Episoden aufzuholen. Weiterhin besteht die Gefahr, dass ich in zwei Jahren, wenn ich zurück nach Deutschland komme, noch ein Jahr lang weiterschreiben muss. Prokrastination, wer kennt sie nicht?

Montag, 31. Oktober 2011

Umzug in Montréal: eine (ein wenig zu) spannende Geschichte!

Frei nach dem Motto "Mut zur Lücke", mache ich einen großen Sprung und steige beim meinem Umzug gestern wieder ein. Die fehlenden Teile werden nachgereicht, versprochen (sofern ich noch Erinnerungen daran habe, aber zumindest die Fotos von meinen Trips kommen noch). Doch der Umzug war so unglaublich einzigartig und legendär, dass ich nicht länger an mich halten kann - mein Mitteilungsbedarf ist zu groß!

Nachdem Johannes und ich 3 Monate gemeinsam in unserem charmanten (= winzigen) Apartement in der Rue Rachel gewohnt haben, bin ich gestern, eine Woche nach Johannes Abreise in meine neue WG in der Rue St Denis gezogen, quasi 5 Metrostationen weiter. Die neue Wohnung hat so eine schöne Treppe außen, wie ich mir gewünscht hatte und meine drei Mitbewohner sind sympathisch und entspannt. Da wäre Amélie, eine Québécois, die in Montréal geboren ist (eine echte Einheimische also - die sind hier echt rar!), Yeelena, eine francophone Schweizerin, die vor einem Jahr mit ihren Eltern hierhin gekommen ist und Josh, der aus Ottawa kommt, also anglophon ist, aber auch die ganze Zeit französisch spricht - mit einem total schönen Akzent. Wir sind alle Studenten, Josh und ich an der UdeM und Amélie und Yeelena an der UQAM (Université de Québec à Montréal). Die WG ist sehr groß uns schön, einziges Manko: mein Zimmer ist sehr klein und hat kein Fenster (Fotos folgen, wenn ich es ein bisschen wohnlicher gestaltet habe), aber dafür bezahle ich extrem wenig. Man muss eben Prioritäten setzen.

Seit ich hier bin, verspreche ich nun schon Fotos von unserer (jetzt) alten Wohnung und bevor ich heute morgen die Schlüssel abgegeben habe, hab ich dann endlich welche gemacht. So sah sie also aus:
Unscharfes Bild vom Bett: leider habe ich nur eins gemacht.




Den Balkon haben wir hauptsächlich zum Wäsche aufhängen benutzt - draußen gesessen haben wir glaube ich nur einmal.

Blick vom Balkon aus: der Berg Mont Royal (leicht verdeckt von einem Hochhaus)




Diese Stühle garantieren Rückenschmerzen ab 10 Minuten Sitzdauer.


Blick von der Eingangstür aus.

Der Duschvorleger war ein echter Komfortgewinn. Ich habe ihn großzügig unserem Nachmieter überlassen.

Das durchsichtige Ding auf dem Rand ist der Wasserknauf, der ständig abgefallen ist.
Jetzt aber zum interessanten Teil der Geschichte: der Umzug.

Domtille, eine Doktorandin, die auch für meine Supervisorin Sarah arbeitet, hatte sich bereit erklärt ein Auto beim communauto zu reservieren, um mir zu helfen. Das ist so eine car sharing - Sache, bei der man extrem preiswert Autos mieten kann. Ich will mich da auch gerne anmelden, allerdings blocken die dann 1000$ auf meinem Konto und da für meine Kreditkarte bereits 600$ geblockt wurden, ist das momentan noch nicht möglich. Ich habe Domtille gebeten, einen "Matrix" zu mieten, das größte Auto, dass bei communauto zur Verfügung steht. Wir trafen uns dann bei Alan, unserem Post-doc, der von einem Freund eine Kommode für mich hatte. In meinem Zimmer gibt es nämlich nur eine Kleiderstange, einen Schreibtisch und ein "Bett" (das ich schnellstmöglich durch ein Bett ohne Anführungszeichen ersetzen werde, da ich sonst an Muskelverspannungen umkomme). Ich hatte Angst davor, für eine Zeit aus dem Koffer leben zu müssen, daher wollte ich die Kommode direkt am Tag meines Umzugs mitnehmen. Leider war der "Matrix" ein kleiner Kombi und nicht, wie ich mir erhofft hatte, ein Van. So passte gerade eben die Kommode, aber nichts anderes mehr in das Auto. Also mussten wir zwei Fahrten machen. Dies wäre kein Problem gewesen, wenn wir das Auto nicht nur für 1 1/2 Stunden reserviert hätten. Wir hatten es also eilig!

Glücklicherweise waren gerade Amélies Eltern in der WG zu Besuch, so dass ihr Vater gemeinsam mit Josh den Rahmen der Kommode hochschleppen konnte und wir  nur die Schubladen hochtragen mussten.

Dann sprangen wir schnell wieder ins Auto und bretterten zu meinem Appartement. Leider waren wir schon so spät dran, dass Domtille bei communauto anrufen musste, um eine Verlängerung zu erbeten. Ich sprintete also ins Haus, um meine Sachen zu holen. Natürlich funktionierte ausgerechnet zu diesem Zeipunkt und wohlgemerkt zum ersten mal seit ich dort wohne der Aufzug nicht. So schleppte ich insgesamt drei Koffer, einen Rucksack, zwei Taschen und zwei Tüten 4 Stockwerke die Treppen runter. Unten hatte sich aufgrund des nicht funktionierenden Aufzugs eine Menschenmenge angesammelt, durch die ich mich zwängen musste, um nach draußen zu gelangen (warum sollte man auch aus dem Weg gehen, wenn ein mit Gepäck behängtes Häufchen Elend aus dem Treppenhaus kriecht?). Bei meiner letzten von vier Touren zeriss dann eine Papiertüte mit Lebensmitteln im Flur. Ich hetzte also zurück in die Wohnung, um Plastiktüten zu holen und die Lebensmittel einzusammeln. Dabei bemerkte ich, dass meine Haut an den Händen zerissen war und an mehreren Stellen relativ stark blutete. Ich muss mir beim Schleppen der Koffer die Haut daran aufgerissen haben. Natürlich hatte ich kein Taschentuch zur Hand und musste daraufhin die ganze Zeit darauf achten, meine Sachen nicht vollzubluten.

Unten angekommen verkündete Domtille, dass wir das Auto nicht verlängern können, weil es direkt ab 15 Uhr von jemand anderem reserviert wurde. Sie hatte allerdings ein anderes Auto reserviert. Uns blieben 5 Minuten um zum Parkplatz zu gelangen und Autos zu tauschen. Wir kämpften uns actionfilmmäßig durch den Stadtverkehr und erreichten den Parkplatz in der letzten Sekunde. Dort riss ich so schnell wie möglich all mein Hab und Gut aus dem Auto und schmiss es auf den Parkplatz, während Domtille das nächste Auto holte. Leider hatte sie die Zeit etwas unterschätzt und das neue Auto nur noch für eine halbe Stunde reserviert, die jedoch schon seit einigen Minuten angebrochen war. Wir stopften also so schnell wie möglich alles in das andere, sehr viel kleinere Auto und fuhren los. Vor meiner neuen Wohnung warfen wir dann alles sekundenschnell auf den Bürgersteig und Domtille flitzte davon, um das Auto rechtzeitig zurückzugeben. Was für eine Hektik! Dort konnte ich dann aber in aller Ruhe die Sachen die Außentreppe hochtragen und später alles in mein Zimmer bringen.

Wow! Was für ein Stress! Eine gute Erfahrung, eine witzige Story, aber in Zukunft brauche ich das nicht mehr. Nie wieder. Das sind so Erfahrungen, die man im Ausland macht. Einzigartig und unersetzlich.

Daraus gelernt habe ich: ausreichend Zeit für einen Umzug einplanen. Auch wenn man nicht viel Kram hat, dauert es meistens länger als man ursprünglich dachte. Und: Papiertüten eignen sich nicht für schwere Dinge.

Eine andere wichtige Erfahrung erfolgte dann heute morgen, um dem ganzen die Krone aufzusetzen: ich erhielt in unserem alten Appartement die Kaution für die Schlüssel nicht zurück, da ich damals keine Quittung verlangt habe. Tja, dumm gelaufen, aber für die Zukunft weiß ich Bescheid. Das sind eben so Erfahrungswerte (wie Katis Mutter zu sagen pflegt).

Dienstag, 11. Oktober 2011

InGAAA fait des études de sucreologie et vient de Cologne

Oder für unsere nicht französisch-sprachigen Freunde: InGAAA studiert Zuckerologie und kommt aus Köln.

Mit dieser denkwürdigen Aussage möchte ich meinen Bericht über die Ankunftswoche für internationale Studenten an der Université de Montréal einleiten. Diese vom "Büro für internationale Studenten" organisierte Woche liegt mittlerweile schon über einen Monat zurück und war sehr ereignisreich. Ein Grund dafür, dass ich mich so lange um diesen Blog-Eintrag herumgedrückt habe. Inzwischen wurde ich von anderen fleißigen Auslands-Bloggern überholt (ich weiß, bloggen ist kein Wettbewerb). Der Trick ist, nicht immer so lange zu warten bis sich ein riesiger Berg aufgetürmt hat. Diese Weißheit lässt sich ohne Probleme auch auf den Haushalt, lernen und andere Lebensbereiche übertragen. Es ist erstaunlich, dass ich in all diesen Lebensbereichen so wunderbar prokrastinieren kann.

Jetzt aber zum Wesentlichen, wie immer chronologisch:

Montag (22.08) ging es mit einer Infoveranstaltung los. Ab 8.30 konnte man kommen, Kaffee trinken und Formulare für seine Akte im Büro für internationale Studenten (BEI = "Bureau des étudiants internationaux") ausfüllen. Leider war mir meine Postleitzahl hier entfallen (sie besteht aus einer Buchstaben-Zahlen-Kombination, der mein Gehirn ebenso renitent den Speicherplatz verwehrt wie meiner neuen Handynummer, meinem code permanente (Immatrikulationsnr.) und meinem code d'accèss). Doch beim Abegeben des Formulars blieb keinerlei Möglichkeit für Anmerkungen bezüglich fehlender Informationen. Die Leiterin (?) des BEI befahl uns alle in den Hörsaal, damit wir uns dort den Vortrag zu ALLEM anhören, was man als internationaler Student wissen muss. Die gute Frau spricht einen der krassesten Québécois-Akzente, den ich bisher gehört habe und das Ganze in zehnfacher Geschwindigkeit. Dies ist vielleicht als erste Schockkonfrontation für ausländische Studenten gedacht. Die Gruppe der ausländischen Studenten besteht zu gefühlten 90% aus Franzosen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da für sie einerseits die Sprachbarriere entfällt (was aufgrund des starken Akzents jedoch nicht ganz so der Fall ist) und sie andererseits nicht den Studiengebührenaufschlag für internationale Studenten bezahlen müssen.

Nach der Infoveranstaltung, die einen mit dem Übermaß an Informationen zu erschlagen drohte, gab es eine Campusführung von ein paar Mädels aus der Studentenverbindung, die das BEI unterstützt.
Die Eishalle, im Hintergrund der Pavillion Marie Victorian, in dem ich jetzt arbeite.

Führung auf dem Weg zum Sportgebäude.


Ich dachte, ich hätte in der Willkommenswoche mehr und vor allem aussagekräftigere Fotos gemacht. Vertan!

Mittags gab es die ganze Woche BBQ auf dem Place de la Laurentienne. Dort fanden auch größtenteils die Initiationen der einzelnen Fakultäten statt. Diese Rituale zur Begrüßung der neuen Studenten muteten zum Teil sehr merkwürdig an und bestehen zu einem großen Teil aus mehr oder weniger ausgefallenen Kostümierungen, lauten Brüllgesängen und mehr oder weniger demütigenden Aufgaben für die neuen Studenten (zum Beispiel mit Gaffer Tape als Gruppe zusammengeklebt werden und dann irgendwo hinrennen). Sicherlich wird dadurch der Zusammenhalt der neuen Kohorte erhöht und alle anderen haben was zu lachen.




Ich bin jedenfalls nicht böse darum, dass unsere Initiation durch die Organisation einer Weihnachtsfeier für das CERNEC (Centre de recherche en neuropsychologie et cognition) vollzogen wird. Das gehört aber in einen anderen Post (ich spüre, wie ich mich hier langsam verstricke - ich hoffe dies geschieht nicht auf Kosten des Lesekomforts...).

Nachmittags habe ich dann meinen ersten Original Québécoisen Film geschaut - und er war großartig! Wer ihn irgendwo auftreiben kann: unbedingt gucken!"La grande seduction"... ich lasse das Video sprechen.

 


Danach gab es noch eine Bibliotheksführung, die ich mir jedoch aufgrund von leichter Reizüberflutung ersparte. Glücklicherweise muss ich mich um von der Uni heimzukommen nur auf mein Fahrrad setzen, 20 Minuten warten und ab und an vor einer Ampel anhalten. Der Hinweg gestaltet sich dementsprechend sehr anstrengend, da ich den Berg Richtung Uni (der sogenannte Mont Royal - woher hat die Stadt nur ihren Namen?) hochkraxeln muss. Während ich in den ersten Tagen noch fortwährend von anderen Fahrradfahrern überholt wurde, während ich in einer Geschwindigkeit, bei der das Fahrrad Mühe hat noch aufrecht stehen (!) zu bleiben, den Berg hochkroch, habe ich mich mittlerweile gut daran gewöhnt und werde nur noch von fitteren Fahrern überholt. Außerdem bin ich auch nicht mehr so erschöpft, wenn ich ankomme, sondern fühle mich von der morgendlichen Bewegung "frisch und erholt" (ein Zitat aus meiner Zeit im Schlaflabor: dort wurden die Probanden gefragt, ob sie sich nach dem schlafen frisch und erholt fühlen - ein super Ausspruch, wie ich finde).

Dienstag ging es erst mittags los, da sich eine Punkte des Programms mehrmals in der Woche wiederholten. Nach einem Veggie-Burger Frühstück/Mittagessen wurden wir in einem Vortrag über die Politik in Québec aufgeklärt. Obwohl der Dozent das Thema spannend vermittelt hat, wurde es nach 2 1/2 Stunden etwas dröge und stickig im Saal, so dass Muriel, eine Schweizerin, die ich unmittelbar zuvor kennen gelernt hatte und ich uns erneut gegen die Bibliotheksführung und dafür für ein Bier in der Karaoke-Bar entschieden. Ich freue mich an dieser Stelle meine Leser nicht auf einen späteren Zeitpunkt bezüglich der Bibliotheksführung zu vertrösten, denn ich habe es gar nicht mehr "auffe Kette gekriecht" sie zu besuchen.
In der Karaoke-Bar saßen wir an einem Tisch mit Mégan aus der Karibik und Felipe aus Brasilien. Wir bestellten uns gemeinsam einen Pincher Bier, der euch an dieser Stelle nicht vorenthalten werden soll.
Bierpincher: ja, es gibt ihn wirklich und Schaum wird allgemein überbewertet. Ich fands supi!
Bezüglich des Karaoke-Wettbewerbs begann es mit der üblichen sozial erwünschten Bescheidenheit. Keiner traute sich so Recht, die ersten Teams wurden durch die Betreuer gestellt. Nach und nach trauten sich immer mehr Leute auf die Bühne, zunächst in Riesentruppen, später gab es sogar einige leidenschaftlich geschmetterte Solos. Wir einigten uns ein wenig schüchtern, um nicht zu sagen feige auf "We are the chmapions" von Queen und hier sieht man uns kurz nach unserem Auftritt.
Megane, Muriel, InGA, Felipe. Evtl. Augenfehlstellungen sind eine optische Täuschung und auf meine mangelnde Fotobearbeitungs-Fähigkeiten zurückzuführen...






Gewonnen haben wir berechtigterweise nicht, aber es war "le fun" wie man hier sagen würde. Später wollten wir eigentlich noch Billy Jean von Micheal Jackson performen, was mit Sicherheit legendär gewesen wäre, aber leider war der Andrang aufs Mikrofon dann schon so groß, dass nicht mehr alle drankamen bevor wir die Bar verlassen mussten, weil eine andere Gruppe internationaler Studenten kam.

Mittwoch morgen konnte ich nicht am Programm teilnehmen, weil wir ein Treffen mit allen neuen Master-/ Ph.D. Psychologie Studenten hatten. Dort wurde uns zunächst mitgeteilt, dass der Methodenkurs gestrichen wurde. Dies hat für mich noch weitreichende Folgen, da meine Betreuerin, die sehr besorgt um  meine Ausbildung ist, sich keinen anderen Kurs für mich als Ersatz vorstellen kann und ich den Kurs daher erst nächstes Jahr im Herbst machen kann.Vorteilhaft daran ist jedoch, dass ich so dieses Trimester nur einen Kurs habe und mich ganz auf meine Forschung konzentrieren kann. Ansonsten gab es auf dem Treffen für mich nichts großartig Neues, da ich als alter Kontrollrolf natürlich vorher schon die Prüfungsordnung gelesen hatte. Man kennt mich ja. Ich habe dort dann zwei Mädchen kennen gelernt, Valerie und Gaëlle, die auch jetzt ihren Master anfangen und beide wollten ihren Studentenausweis machen lassen. Eigentlich hatte ich das für den Tag nicht geplant und war dementsprechend nicht auf das Foto vorbereitet, wollte diese Eitelkeit jedoch den anderen gegenüber nicht zugeben. Nun sehe ich also auf meinem Studentenausweis ein bisschen nackig aus, weil ich an diesem wirklich heißen Tag nur ein fliddeliges (ich bezweifle, dass "fliddelig" ein richtiges Wort ist, aber ihr versteht  mich) Spagetthi-Top getragen habe. Von dem wahnsinnigen Grinsen, das dazu kommt ganz zu schweigen. Aber ein Studentenausweis mit einem Foto für das man sich nicht schämen muss wäre auch was ganz Neues.

Bevor das Programm weiterging hatte ich etwas Zeit und stöberte daher ein wenig im Buchladen in der Uni-Bibliothek. Es gibt dort eine extra Sparte mit Romanen von Autoren aus dem Québec, die mein interesse weckte. Ich suchte mir ein Werk aus, von dem ich ausging, dass es komisch ist und fragte die Verkäuferin, ob sie es gelesen habe und ob sie es mir empfehlen kann. Sie kannte es nicht, also erklärte ich ihr, dass ich ein Buch von einem lokalen Autor suche, in dem auch ein bisschen die Mentalität hier vermittelt wird. Damit hatte ich das richtige Stichwort genannt und aus dem hinteren Teil des Ladens sprang eine freundliche junge Dame hervor, deren Leidenschaft die québécoise Literatur ist. Begeistert rannte sie mit mir duch den Laden und häufte Bücher an, die ich "unbedingt lesen muss". Ich kam mir so ein bisschen vor wie der Typ in der berühmten Szene in high fidelity, der von Jack Black die LPs aufgebrumt bekommt ("Alles wird gut, Mann"). Letzendlich entschied ich mich für einen Klassiker von Michel Tremblay http://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Tremblay, einem der berühmtesten québécoisen Autoren, mit dem Titel "un ange cornu avec des ailes de tôle" (ein gehörnter Engel mit Flügeln aus Blech (?)). Er erzählt darin über seine Kindheit und Jugend und wie er seine Leidenschaft zum lesen entwickelt hat - und das ganze spielt in der Straße an deren Ecke ich wohne! Ein Kracher!

Nachmittags wurde dann wieder ein québécoiser Film gezeigt, was ich mir natürlich nicht entgehen lassen konnte. Die haben hier wirklich eine sehr ausgedehnte Filmkultur, man kann an der UdeM auch "cinéma" studieren und bisher haben mich alle (beiden) Filme, die ich gesehen habe sehr überzeugt. Ich mag diese ganz spezielle Art von Humor. Mittwoch wurde jedenfalls "Bon Cop, Bad Cop" gezeigt, der sehr ausgeklügelt die Stereotype Québec - Ontario gegenüberstellt. Wenn ihr irgendwie drankommt (und ich gehe davon aus, dass meine Empfehlung euch nicht eher ruhen lässt als ihr die DVD in euren triumphierenden Händen haltet), guckt ihn unbedingt im zweisprachigen Original (ggf. mit Untertiteln in einer Sprache, der Akzent könnte selbst für geübte Französisch-sprecher kniffelig sein). Hier ein kleiner Vorgeschmack:
Danach habe ich vielleicht das Sportzentrum CEPSUM besichtigt, vielleicht war das aber auch erst am Donnerstag. Jemand, der dermaßen amnestisch ist wie ich, sollte sich, wenn er sich schon nicht regelmäßig um seinen Blog kümmert, wenigstens ein paar Notizen machen. Aber für euch macht es ja eigentlich auch keinen Unterschied, wann es nun genau gewesen ist. Egal. Es geht ums Prinzip. Das CEPSUM (Complexe sportif de l'Université de Montréal) befindet sich praktischerweise direkt neben dem Pavillon Marie-Victorin, in dem die Psychologie-Fakultät angesiedelt ist. Das Ding ist einfach RIESIG und beinhaltet eine große Schwimmhalle mit 3 Becken, mehrere Mehrzweckfelder für Hallensport, eine Kletterwand, Squash-Zellen, Tennisplätze, ein Fitnessstudio und und und. Die Schwimmhalle kann von Studenten kostenlos (!!!) benutzt werden, ebenso kann man sich kostenlos Felder und Squash-Zellen reservieren. Sport ist hier an den Universitäten, ähnlich wie in Amerika, viel wichtiger als bei uns. Die jeweiligen Profimannschaften in den einzelnen Disziplinen (genannt "carabins") trainieren unheimlich viel und zu den Spielen/Wettkämpfen kommen unglaublich viele Zuschauer. Hinter dem CEPSUM befindet sich auch ein Stadion, dass im Rahmen meines ersten Football Spiels vor ein paar Wochen als Zuschauer besucht habe. Ich habe da eine Menge Fotos gemacht und vielleicht gibt es in einigen Monaten einen Blog-Eintrag dazu, wenn ich dort angelangt bin. Das CEPSUM bietet mir also einen Ausgleich zur Poutine und eine Ergänzung zu meiner täglichen Fahrrad (Tor)tour.

Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, um den Titel des Posts ein wenig näher zu erklären. Die alles entscheidende Frage, die ich häufig gestellt bekomme ist, "wie klappt es denn mit dem Französisch?". In der Willkommenswoche war ich das erste mal dauerhaft auf meine Französischkenntnisse angewiesen, weil alle Veranstaltungen auf Französisch waren und die anderen internationalen Studenten (= Franzosen) auch nur französisch geredet haben. In der Woche habe ich so richtig gemerkt, wie ich Sprünge mache, wie Vokabeln, die verschüttet waren, wiederkommen. Ich habe angefangen französisch zu träumen. Leider habe ich nicht "auf französisch" geträumt, sondern mir schwirrten nur nächtelang Wörter und Satzfetzen im Kopf herum. Letzendlich hat meine wunderbare Freundin Sina Recht gehabt mit dem Ausspruch "Zu Beginn wirst du dich etwas durchbeißen müssen, aber es wird schon gehen." Leider geraten meine Französischfähigkeiten gerne genau dann ins Schwanken, wenn wichtige und lächerlich simple Aussagen getätigt werden müssen. Zuallererst: mein Name. So wunderschön ich ihn auch finde (dezentes Lob an meine Eltern), hätte es sicherlich Namen gegeben, die international einsatzfähiger sind (auch außerhalb von Skandinavien). Ich muss ihn immer mindestens dreimal sagen, was aber auch daran liegt, dass ich ihn nicht vernünftig französisch aussprechen kann. Es läuft dann meistens so ab: "Tu t'appelles comment?" - "Inga" - "InGEE?" - "Inga" - "Comment?" - "Inga" - "Aaaaaahhhhh, InGAAAA!". Die zweite Silbe muss mehr betont werden, sonst wird das hier nichts mit meinem Namen. Aber wenn man sich erstmal 22 Jahre an eine andere Aussprache des eigenen Namens gewöhnt hat ist das leichter gesagt als getan. Bei der scotiabank haben sie das Problem ganz umgangen und einfach alle Konten auf Sophia angemeldet. Sie haben wahrscheinlich das Inga in meinem Pass für ein bizarres deutsches Wort ohne tieferen Sinn gehalten. Das wäre also meine erste sprachliche Unfähigkeit, noch schlimmer gestaltet sich jedoch meine Auskunft über mein eigenens Studienfach. Als ich vor einigen Jahren einmal das Wort "Psychology" englisch aussprechen wollte, gab mir eine Freundin in einem denkwürdigen Vortrag und unter Gewaltandrohungen den gut gemeinten Hinweis NIE WIEDER "Pseikologji" zu sagen, weil es den Laut Ps im englischen nicht gibt. Seitdem achte ich penibel darauf diesen  Kardinalfehler zu vermeiden. In einem Anfall linguistischer Verwirrung habe ich diese Regel jedoch unzulässig auf das Französische verallgemeinert und spreche deswegen das P am Anfang von Psychologie häufig nicht aus. Dies führte dazu, dass die meisten Leute mich gar nicht verstanden und andere dachten, ich würde etwas mit Zucker studieren (Sucreologie) - in Zeiten von kreativen Studienfachneugestaltungen im Rahmen von Bachelor und Master sicherlich gar nicht so abwegig.. Der dritte Teil des Titels bezieht sich darauf, dass es ziemlich schwierig ist hier jemandem zu erklären, wo ich genau herkomme aus Deutschland. Das kein Schwein Witten kennt, daran bin ich schon gewöhnt, aber dass ich auch mit Bochum / Dortmund / Essen niemanden aus der Reserve locken kann ist neu für mich. Innerhalb kürzester Zeit bin ich deshalb dazu übergeganen zu sagen, dass ich aus der Nähe von Köln komme, was wiederum von den anderen auf ein einfaches "InGA kommt aus Köln" verkürzt wurde. Aber es könnte schlimmer sein, schließlich ist Köln eine wunderschöne Stadt und wenn ich in kanadischen Dimensionen denke, wohne ich ja auch wirklich sehr nah an Köln.

Donnerstag morgen gab es eine Veranstaltung zum legendären "Choc culturel", über deren Besuch ich jetzt - mehr als einen Monat später - sehr froh bin! Ich kam ein wenig zu spät während in Kleingruppen bereits die Unterschiede zwischen Montréal und dem Heimatland (in 90% Frankreich) erarbeitet wurden. Soweit ich mich erinnere, waren die Hauptpunkte zunächst einmal die Sprache, bzw. für die Franzosen der Akzent, das Essen (das hier im Vergleich zu Europa sehr viel teurer ist, vor allem Obst, Milchprodukte (Käse!) und Alkohol sind unbezahlbar), die Freundlichkeit der Menschen (siehe meine vorherigen Blogeinträge), die krassen Sprünge in der Temperatur (es ist einfach unmöglich sich hier vernünftig anzuziehen, gerade im Herbst. Morgens sind es 2°C, Mittags in der Sonne 28°, im Schatten 15C° und abends 8C°.), die Organisation der Kurse an der Uni (wenige Kurse, für die aber unglaublich viel getan werden muss: mehrere Hausarbeiten, Präsentationen und Prüfungen (alles wohlgemerkt im Plural) pro Kurs), das undurchschaubare Busnetz (Abfahrtszeiten und Zielrichtung sind der Haltestellenur selten zu entnehmen, die Verbreitung dieser Informationen erfolgt hauptsächlich über Mundpropaganda. Selbst unsere québécoisen Betreuerinnen, zwei nette Psychologinnen, konnten uns damit nicht weiterhelfen und baten ihnen Bescheid zu sagen, falls wir jemals das System dahinter begreifen sollten.) und noch einiges, an das ich mich jetzt konkret nicht mehr erinnere. Dann erfolgte ein Vortrag über die verschiedenen Phasen des Kulturschocks.
1.) Alles ist toll (siehe meine ersten Blogeinträge)
2.) Heimweh und Nostalgie (wellenartig auftauchend)
3.) Adaptation
Außerdem verbreiteten sie einige Ratschläge, um dem Schock entgegenzuwirken, die mich allerdings eher unter Druck setzten, nach dem Motto: schnell in Aktionismus verfallen, um dem Schock entgegen zu wirken. Sie beschrieben die Symptome, von denen ich vor allem die Müdigkeit bestätigen kann: ich war bestimmt den kompletten ersten Monat hindurch ständig schlapp, aber auch das hat sich mit der Zeit gelegt. Einen Satz habe ich jedenfalls ganz besonders im Gedächtnis behalten und er dient mir als Mantra, wenn ich mal wieder mit einer Situation überfordert bin: "Je peux fonctionner, même si je ne comprends pas vraiment le système", - "Ich kann funktionieren, auch wenn ich das System nicht wirklich verstehe." C'est ça!

Danach gab es Pizza, kleine Babymöhrchen (die gibt es hier überall fertig geschält und abgepackt zum mitnehmen), Saft, Sojakakao und Kekse vom CÈSAR (Centre étudiant de soutien à la réussite), einem Zentrum, dass medizinische und psychologische Unterstützung für Studenten anbietet, aber auch Schreibwerkstätte und ähnliches. Pizza gibt es hier oft als Snack bei Veranstaltungen und zwar in einer ganz droligen Art und Weise: dicker, rechteckiger Hefeteig, etwa so groß wie ein großes Schneidebrett, mit Tomatenpaste drauf und in pralinengroße Stücke geschnitten. Nur für meine Schwester bennene ich das jetzt mal ganz spontan als Canapé - es gibt in unserer Familie nämlich einen uralten Konflikt über die Definition eines Canapés - und mit diesem neuen Vorschlag werde ich sie sicher zum lachen bringen.


Nachmittags habe ich an einer Stadtrundfahrt "de la montagne au fleuve" - also "vom Berg bis zum Fluss" teilgenommen. Erfreulicherweise fuhren wir mit einem Schulbus durch die Gegend, so einem richtig schönen, gelben, den man aus amerikanischen Filmen kennt. Die Führerin war sehr engagiert und brachte die Informationen amüsant rüber, zumindest so lange ich folgen konnte. Leider muss ich mich auf das Französische noch ziemlich stark konzentrieren, um nicht mit den Gedanken abzuschweifen während geredet wird. Unfreiwilliger Höhepunkt der Tour war übrigens ein Unfall, in dem der Busfahrer beim Rückwärtsfahren einen Laternenmast umnietete, der direkt einknickte wie ein Strohhalm. Noch besser war, wie er diesen Zwischenfall vollkommen gelassen hinnahm.

Sankt Lorenz Strom


Montréal vom "Mont-Royal" aus


Kunstwerk in Gedenken an Jaques Cartier, den Entdecker Kanadas.

Dieses Foto ist Pflicht für jeden Touristen. Die Eichhörnchen hier sind einfach riesig und total zutraulich!


Freitag morgen gab es dann noch einmal einen Vortrag über die Entwicklung Québecs, der vor allem auf die Sprache einging und die Gründe dafür, warum französisch hier als Amtssprache so vehement beschützt wird. Die Präsentation beinhaltete eine Auflistung von gefühlt allen Gesetzen, die seit der Gründung von Québec verabschiedet wurden und beanspruchte meine Übersetzungskünste für ganze drei Stunden. Ich musste hier zunächst immer zweimal übersetzen, um die Québécois zu verstehen: einmal Québécois -> Französisch und dann Französisch -> Deutsch.
Die Ankunftswoche wurde dann mit einem "cocktail de bienvenue", also einem Willkommenscocktail beendet. Cocktail bedeutet hier übrigens nicht Cocktail in unserem Sinne, sondern steht einfach nur für ein alkoholisches Getränk, in diesem Fall Rosé Wein. Bei Getränken unterscheidet sich das québécois recht deutlich vom französisch, das in Frankreich gesprochen wird. Das Wort "breuvage" für Getränk (im deutschen in etwa: Trank), wird in Frankreich zum Beispiel kaum verwendet. Ebenso steht hier "Liqueur" für Getränke allgemein, oder Limonaden, während es in Frankreich, ähnlich wie in Deutschland eher für alkoholische Liköre verwendet wird. Hier werden allgemein mehr alte französische Worte und Redewendungen verwendet, die in Frankreich nicht mehr so "up to date" sind. "À tantôt" für bis ganz bald sagt in Frankreich zum Beispiel niemand mehr. Ich stelle mir den Unterschied ein bisschen so vor wie zwischen Deutschland und Österreich (teilweise vielleicht auch Bayern), wo man z.B. Bub sagt.
Zum Willkommenscocktail wurden jedenfalls kleine Snacks gereicht, Reden von vielen wichtigen Personen gehalten (Zusammenfassung: die Université de Montréal ist einfach ne supi Uni und freut sich über ihre internationalen Studenten) und ein bisschen Merchandise verlost. Was Produkte mit Uni-label drauf angeht, überragen die Unis in Nordamerika unsere Produktpalette bei weitem. Sämtliche Kleidungsstücke, Taschen, Flaschen, Schreibmaterialien, Picknickdecken etc. gibt es mit Uni-label. Ich habe mir schon eine UdeM Laptophülle gekauft und eine Trinkflasche, mit der ich allerdings nicht zufrieden bin, da der daran besfestigte Deckel so schwer ist, dass ab einem gewissen Füllstand die Flasche umzukippen beliebt.

Abends bin ich dann mit Roxane, einer belgischen Architektur-Studentin und Jasmin, einer Deutschen, die hier auch Psychologie, allerdings im Bachelor, studiert, Nudeln essen gegangen. Die beiden sind Teil einer WG, zu der auch noch Larissa, eine Brasilanerin gehört. Sie haben sich in der Ankunftswoche kennen gelernt und ohne Auto eine Wohnung komplett neu eingerichtet. Respekt! In dem Nudelrestaurant haben wir dann noch Jasmins deutsche Freundin Helena getroffen und Stéphanie, eine Québécoise, die jetzt schon in Deutschland ist, um dort als Lehrerin zu arbeiten. Wir waren eine lustige Runde und ich habe natürlich nicht versäumt Stéphanie auf die deutschen Bierspezialitäten einzustimmen, die sie nicht verpassen darf (Radler, Alster, Kre...).

Mit Roxane war ich dann am Samstag Abend in Montréal unterwegs und wir haben ihren Cousin Nathan getroffen, der auch ein Jahr hier ist. Die Straße St Laurent war für Autos gespeert und lauter kleine Stände mit Essen, Trinken und Nippes oder auch Massage-Liegen, auf denen man sich draußen massieren lassen konnte, waren aufgebaut. Im Sommer wird hier fast jedes Wochenende irgendeine Straße für ein Straßenfest oder ein Festivals gesperrt. Auf einem kleinen Platz an einer Straßenkreuzung fand ein winziges Konzert mit verscheidenen Künstlern statt, zuletzt trat noch eine Zauberkünstlerin auf. Roxane und ich kauften uns eine Dose Bier "auf die Faust" (wie man im Ruhrgebiet sagen würde) und wurden zudann mit dem Problem konfrontiert, dass man in Montréal auf der Straße nur dann Alkohol trinken darf, wenn man etwas dazu isst (ich hatte im Zusammenhang mit dem Piknic Electronik schonmal darüber berichtet). Zunächst behalfen wir uns notgedrungen mit einem Plastikbecher (frei nach dem Motto: "das ist nur Apfelschorle"), bis ein liebenswerter Kioskbesitzer uns mit den berühmten braunen Papiertüten zum drumwickeln ausstattete, die man aus amerikanischen Filmen kennt. Diesen Anblick kann ich euch natürlich nicht ersparen und damit: Santé!